Die protestantische Kirche in der Bundesrepublik Deutschland befindet sich – wie auch die katholische – mittlerweile in einer Minderheitensituation. Die Kirchen in der DDR sollten als Relikt bürgerlicher Herrschaft im Zuge des Aufbaus des Sozialismus von selbst verschwinden. Da das nicht Fall zu sein schien, nahm die SED früh den Kampf gegen die Kirche auf und führte ihn bis zum Untergang der DDR fort. Die Christ:innen wurden unter SED-Diktatur zwar stark dezimiert, doch ihre Kirchen hatten sich als Ort der Glaubensausübung und des mehr oder weniger freien Gedankenaustausches gehalten. Insbesondere die protestantischen Kirche hatten in dieser Funktion sogar einen entscheidenden Anteil daran, dass die Demokratie-, Freiheits- und Oppositionsbewegung zur Friedlichen Revolution führte und damit die SED-Diktatur endete.
Obwohl es naheliegend ist, einen Blick auf die Geschichte zu werfen, sich historisch zu informieren, um daraus Schlussfolgerungen zu ziehen, kam es erst im Jahr 2019 zur Gründung der Leipziger Forschungsstelle „Kirchliche Praxis in der DDR. Kirche (sein) in Diktatur und Minderheit“ – unter der Leitung der ehemaligen mitteldeutschen Landesbischöfin Ilse Junkermann. Sie geht von folgender Forschungshypothese aus: „In den Transformationen, im kirchlichen Leben und Handeln, in Methoden und Vollzügen aufgrund einer zunehmend säkularen Minderheitensituation in der DDR liegen wichtige Potentiale für Kirche im 21. Jahrhundert“
Die Arbeit der Forschungsstelle bewegt sich im Wechselspiel von Kirchlicher Zeitgeschichte und Praktischer Theologie. Der Fokus liegt dabei auf der kirchlichen Praxis in der DDR und auf der Frage nach der gegenwärtigen Bedeutung dieser Praxis für Kirche und Theologie. Bisher ist die kirchliche Praxis der Kirchen in der DDR nur in Ansätzen erforscht, eine umfassende (praktisch-)theologische Reflexion steht noch aus. Dafür eine entsprechende Wissensbasis und Forschungsgrundlage zu schaffen, ist insofern ein Novum, als Kirche in der DDR in der Kirchlichen Zeitgeschichte bisher nicht so oft vorkommt und in der Praktischen Theologie eine zeitgeschichtliche Rückbindung kaum etabliert ist, schon gar nicht im Blick auf die kirchliche Praxis in der DDR. Zudem rückt mit einer solchen digitalen Forschungsdatenbank die kirchliche Praxis in der DDR stärker in den Fokus der allgemeinen wissenschaftlichen Forschung, auch als wichtige Grundlage für die allgemeine Gesellschaftsgeschichte der DDR, in der die Rolle der Kirchen eher am Rande oder mit dem Fokus auf die späten 1980er Jahre wahrgenommen wird.
Um die entsprechende Wissensbasis für eine historisch-informierte Praktische Theologie bereitzustellen, wurden in der Forschungsstelle zum einen bei Tagungen zu zentralen Themen Forschungserträge zusammengeführt und Forschungsbedarfe ermittelt. Zum anderen wurden Biogramme und Portraits von Personen, Gruppen und Einrichtungen in und im Umfeld der Kirchen in der DDR, also kirchliche und nichtkirchliche Akteur:innen bzw. aus SED-Sicht „Unruhestifter“, gesammelt, Forschungsliteratur und - quellen zusammengestellt. Alle diese Daten wurden, gefördert durch die Bundesstiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur, auf einem Confluence-Wiki des Forschungsinfrastrukturservice DARIAH-DE gespeichert. Dieser bot das projekt- und institutionsübergForschungsbibliographieter Zeit verzehnfacht haben. Die Einstellung des Betriebs des Confluence Wikis zu Ende Juni 2023 wurde angekündigt. Die jahrelange Arbeit der Leipziger Forschungsstelle war in akuter Not, da mit einer Abschaltung auch die dort bereits eingetragenen Daten nicht nur nicht mehr hätten bearbeitet werden können, sondern ohne Backup-Dienst gleich vollständig verloren gegangen wären. Eine neue Plattform für die Daten musste gefunden werden.
Die Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, vertreten durch ihren Präsidenten, ihren Generalsekretär und das KompetenzwerkD, konnte beim Sächsischen Ministerium für Wissenschaft, Kultur und Tourismus eine Förderung des ersten Folge- und Sicherungsprojekts (Laufzeit 04/2023-03/2024) einwerben: „Kirchliche Praxis in der DDR: Umsetzung einer digitalen Forschungsumgebung zur Bereitstellung und Vernetzung von Quellen und Forschungsdaten". In der Projektlaufzeit wurde die digitale Forschungsumgebung WOKDDR realisiert, vorhandene Daten eingepflegt, strukturiert und die Datenbank inhaltlich und technisch weiterentwickelt.
Das aktuelle Forschungsprojekt, „Umgang mit Andersdenkenden und die Konsequenzen: eine datenbasierte Analyse der Politik der SED gegenüber den Bausoldaten“ (Laufzeit: 07/2024-12/2025) verfolgt zwei Hauptziele: Eine konkrete Forschungsfrage zur DDR-Kirchen- und Gesellschaftsgeschichte soll beantwortet und gleichzeitig die Struktur und Abfragbarkeit von WOKDDR verfeinert und optimiert werden. Hat die rigide und repressive Politik der SED gegenüber Andersdenkenden erst zur Bildung und Stabilisierung einer großenteils in oder unter dem Dach der Kirche angesiedelten Demokratie- und Oppositionsbewegung geführt? Hat so die SED-Politik die Kirchen in der DDR wider Willen gestärkt und die eigene Herrschaft geschwächt?
Mit der Erforschung dieses Aspekts der DDR-Kirchengeschichte wird wiederum eine Grundlage gelegt für das dritte, über das Ende der SED-Diktatur hinausweisende Forschungsprojekt, das die Transformationszeit nach 1989 bis in die Jetztzeit genauer in den Blick nehmen wird. Denn die Forschung zu Kirchen in der Minderheit und zu ehemaligen Akteur:innen der Oppositions- und Demokratiebewegung zeigt Potentiale zur Bewältigung einer - absehbar auch gesamtdeutsch - Kirche in der Minderheit auf, die auch auf die Zivilgesellschaft gravierende Folgen hat bzw. haben wird. Wieso ist immer noch nicht zusammengewachsen, was doch angeblich zusammengehört? Wieso gibt es immer noch eine Unterscheidung zwischen Ost- und Westdeutschen und was bedeutet das für die zunehmende Fragmentierung der Zivilgesellschaft und für den Zustand einer vermeintlich stabilen Demokratie und die Offenheit der Gesellschaft für „alle“?
Im Rahmen des Projekts konnten die aus dem Vorgängerprojekt hervorgegangen Biogramme teilautomatisiert in einen strukturierten Wissensgraphen übertragen werden. Dafür wird die an der SAW entwickelte Software weedata verwendet und weiterentwickelt. Diese ermöglicht die Erstellung eines Datenmodells, beinhaltet einen Reconciliation-Service zur Anreicherung der Daten aus Normdatenquellen, ermöglicht die Einbindung standardisierter Vokabulare im SKOS-Format, bietet über RDF-Import und Export auch Möglichkeiten zum Transfer von Daten und bietet zur Literatur- und Quellenverwaltung Nach der bereits erfolgten Sicherung der Daten aus dem im Vorgängerprojekt genutzten Confluence-Wiki und Übertragung ins neue System als strukturierter Wissensgraph steht nun die Anreicherung der Daten aus Normdatenquellen, ihre weitere Strukturierung und Auszeichnung von ergänzenden Informationen entsprechend des erstellten Datenmodells im Vordergrund der Projektarbeit.
Die Benutzeroberfläche bietet Möglichkeiten zur Suche nach Begriffen, Personen und Organisationen. Deren individuelle Biographien oder historische und organisatorische Daten sind in einzelnen Einträgen zusammengefasst.
Außerdem bietet das Tool die Möglichkeit, ohne Programmier- oder Datenbankkenntnisse mittels eines Abfragen-Editors Datensets zu generieren und auf spezifische Forschungsfragen zugeschnittene Informationen tabellarisch aus dem Wissensgraphen zu extrahieren.